Die Schweiz und ihre unmittelbaren Nachbarregionen bilden im Herzen Europas ein sehr leistungsfähiges, grenzüberschreitendes Produktions- und Forschungsnetzwerk. Es bestehen sehr enge betriebliche Verflechtungen sowie aussergewöhnlich zahlreiche Forschungs- und Entwicklungskooperationen. Als Absatzmarkt sind diese Regionen für die Schweizer MEM-Industrie gleich wichtig wie die USA und China zusammen. Diese enge Vernetzung braucht eine politisch stabile Partnerschaft. Nur so kann die Schweiz zusammen mit den Nachbarregionen weiterhin florieren und sich weiterentwickeln.
Geregelte Beziehungen mit der EU bedeuten, dass wir gemeinsam eine Lösung in den institutionellen Fragen finden müssen. Denn ohne Lösung werden sich diese Beziehungen weiter verschlechtern.
Bereits heute wirkt sich der Wegfall der Umsetzung des Abkommens über technische Handelshemmnisse für die Medizinaltechnik negativ aus. Für die betroffenen Unternehmen fallen Mehrkosten an. In der Folge passen sich die Unternehmen der neuen Situation an, jedoch meist zulasten des Standorts Schweiz. Die schrittweise Erosion der bilateralen Beziehungen kann in diversen Bereichen beobachtet werden. Die abgespeckte Forschungszusammenarbeit innerhalb von Horizon Europe, die gefährdete Teilnahme der Schweiz an EU-Raumfahrtprogrammen und das fehlende Stromabkommen sind die schmerzlichsten Beispiele für die MEM-Industrie.
Swissmem fordert darum, dass die Schweiz und die EU aufeinander zugehen. Seitens Swissmem sind wir überzeugt, dass eine für beide Parteien zufriedenstellende Lösung in den institutionellen Fragen gefunden werden kann.
Eine unheilige Allianz zwischen den Gewerkschaften und der SVP schafft es jedoch noch immer, diese Lösungsfindung innenpolitisch zu blockieren. Diese Blockade ist zu brechen. Es braucht konstruktive Kräfte, die sich für den Standort Schweiz engagieren und ihn nicht torpedieren. Swissmem setzt sich dafür ein, dass die Schweiz eigenständig die flankierenden Massnahmen verschlankt und gleichzeitig effizienter gestaltet. Dank Digitalisierung der Prozesse ist dies möglich. Dadurch erhöht sich sogar der Schutz gegen den Lohnmissbrauch ausländischer Anbieter und die Kontrollkosten sinken. Das sind Pluspunkte für alle, die es nun in der Schweiz umzusetzen gilt.
Um die innenpolitische Blockade zu überwinden, ist ausserdem eine neue Einstellung gegenüber der EU nötig. Die Schweiz ist in der Umsetzung der Musterknabe, oft mit vorauseilendem Gehorsam. Gleichzeitig wirft uns die EU vor, Cherry-Picking zu betreiben. Doch Cherry-Picking ist der Modus Vivendi aller EU-Mitgliedstaaten. Im Rahmen der generellen Grundsätze, über deren Einhaltung die EU wacht, versucht jeder Mitgliedstaat möglichst viele Vorteile herauszuholen. Cherry-Picking ist also nicht nur erlaubt, sondern normal. Stehen wir also dazu, dass auch wir profitieren wollen und verabschieden uns vom vorauseilenden Gehorsam, akzeptieren dafür gewisse Regeln und versuchen sie möglichst gut zu unseren Gunsten umzusetzen. Bildlich gesprochen: Beim Kirschenpflücken ist man nur erfolgreich, wenn man auf einer stabilen Leiter steht – für die Schweiz, die keinen EU-Beitritt will, heisst diese Leiter Bilateraler Weg.
Dieser Weg muss nun rasch angepasst werden. Zuwarten bis nach den Parlamentswahlen oder sogar noch länger wäre falsch, denn die EU bleibt unser wichtigster Handels- und Werteraum. Das gilt trotz des regulatorischen Tsunamis, welcher den Industriestandort Europa und die Mittelstandsfirmen bedroht und von Swissmem in den europäischen Industrieverbänden immer wieder kritisiert wird. Vielmehr verlangt die durch den Krieg in der Ukraine sowie den Problemen in China und den USA verursachte geopolitische Unsicherheit, dass wir im Verhältnis zur EU Stabilität bei möglichst hoher Eigenständigkeit schaffen. So kann auch verhindert werden, dass uns die EU bei einer ernsten Energiemangellage plötzlich zu viel weitergehenden Zugeständnissen zwingen könnte. Auch hier gilt: Wer zu spät kommt, bestraft die Geschichte! Der Bundesrat ist somit aufgerufen, rasch das Europadossier in der Schweiz und in Brüssel noch stärker in die Hand zu nehmen und Lösungen zu finden.