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Arbeit 50plus: Warum wir den Ruhestand abschaffen sollten.

Gibt es ein Verfallsdatum auf dem Arbeitsmarkt? Altersdiskriminierung im Beruf ist leider auch in der Schweiz keine Seltenheit. Ü50-Jährige haben es oft schwerer einen Job zu finden als jüngere – und dies, obwohl in vielen Branchen Fachkräftemangel herrscht.
Woran liegt’s und was können wir dagegen tun? Wir haben bei Elisabeth Michel-Alder, Sozialwissenschaftlerin und Expertin für das Thema Arbeit 50plus nachgefragt.

Ein Interview von Alena Sibrava

Frau Michel-Alder empfängt mich in einer Seitenstrasse des Zürcher Niederdorfs in ihrem Büro im zweiten Stock. Die Decken sind niedrig, der Raum verwinkelt. Durch die Häuserzeilen hindurch sieht man die Limmat und das Schweizer Heimatwerk. Wir loben den Ausblick auf das fliessende Gewässer. «Es wirkt beruhigend», sage ich. «Es ist in Bewegung», sagt sie. Später, nach gut zwei Stunden leidenschaftlicher Rede, ist klar: die vielgerühmte «Ruhe» zählt ganz sicher nicht zu Frau Michel-Alders Top-Prioritäten.

«Wir müssen aus dem Dreiklang «Ausbildung – Arbeit – Ruhestand» ausbrechen.»

Elisabeth Michel-Alder, Sozialwissenschaftlerin und Expertin für das Thema Arbeit 50plus

Frau Michel-Alder, warum interessieren Sie sich für das Thema Arbeit 50plus?

Elisabeth Michel-Alder: Ich gründete mein Beratungsunternehmen mit dem Wunsch, Menschen darin zu unterstützen, mehr zu lernen und sich zu entwickeln. Dabei stellte ich rasch fest, dass die meisten Unternehmen, sowohl Dienstleister wie auch Industriefirmen, kaum Vorstellungen von der zweiten Hälfte einer Karriere haben. Je nach Branche beginnt diese mit 50 oder bei stark technologiegetriebenen Firmen schon mit 40. Mir ist aufgefallen, dass man sehr viel zur Förderung der Jungen macht. Für ältere Menschen fehlen jedoch oft die Ideen.

Warum ist das so?

Elisabeth Michel-Alder: Wir haben in der Schweiz noch immer ein sehr zweckorientiertes Verständnis von Weiterbildung – gekoppelt an die Aufstiegsmöglichkeiten im Betrieb. Wenn es diese nicht mehr gibt, glauben viele Arbeitgeber und Arbeitnehmende, dass sich die Investitionen in Weiterbildungen nicht mehr lohnen. Dazu kommt, dass in der Schweiz rund ein Drittel aller Arbeitnehmenden etwas vor dem offiziellen Rentenalter in Pension geht – Frauen in der Regel noch früher als Männer. Wenn ein Unternehmer also damit rechnen muss, dass ein Mitarbeitender mit 62 in Frühpensionierung geht, dann fragt er sich, warum er ihn noch speziell fördern sollte.

Wir werden immer älter. Heisst das, wir sollten auch länger arbeiten?

Elisabeth Michel-Alder: Der demografische Wandel gibt uns die Chance, länger aktiv mitzugestalten und produktiv zu sein, auch im Erwerbsleben. Wenn wir künftig 100 werden, können wir andere Lebensziele anpeilen, statt mit 65 in Pension zu gehen und dann 35 Jahre lang zu biken und zu reisen. Gesund zu altern heisst für mich – etwa im Einklang mit der Weltgesundheitsorganisation – konkret, dass man gesellschaftlich aktiv, wach und urteilsfähig bleibt. Um das zu erreichen, meine ich, ist die «bequeme Sofaecke» der falsche Ort.

Was schlagen Sie vor, sollten wir konkret tun?

Elisabeth Michel-Alder: Wir müssen aus diesem Dreiklang «Ausbildung – Arbeit – Ruhestand» ausbrechen. Wir lernen ein Leben lang und können auch ein Leben lang etwas bewirken und arbeiten – völlig unabhängig davon, ab wann wir Rente beziehen können. Statt mit 65 in einen definitiven Ruhestand zu treten, sollten wir uns lieber zwischendurch kleinere Auszeiten gönnen, um durchzuatmen und nach einer Standortbestimmung passender wieder einzusteigen, dann können wir uns gut bis 75 oder länger engagieren. 

Sind nicht schon 60-Jährige heute ausgebrannt?

Elisabeth Michel-Alder: Das erlebe ich anders. Und bei denjenigen, die es tatsächlich sind, ist nicht ihr Alter das Problem, sondern, dass sie viel zu lange routiniert am selben Ort geblieben sind. Da beisst sich die Schlange in den Schwanz. Wenn nach 45 nichts mehr passiert und man im immer gleichen Trott vor sich hin schuftet, ist es klar, dass man es mit 60 gesehen hat.

Dazu kommen – je nach Art der Arbeit – auch körperliche Beschwerden.

Elisabeth Michel-Alder: Das ist ein Vorurteil, das sich hartnäckig hält. Wir haben noch immer das Narrativ vom legendären Bauarbeiter, der am Ende seiner Karriere verbraucht sei. Interessanterweise sagen das immer Leute, die keine Ahnung vom Bau haben. Denn auch dort ist inzwischen vieles maschinell geregelt. Womit wir uns öfter konfrontiert sehen, ist zunehmender psychosozialer Stress – Klientenstress, Kollegenstress oder noch häufiger Führungsstress. Diejenigen, die am häufigsten IV-Rente beziehen, sind Pflegefachleute, Polizisten und Lehrpersonen. Was uns fertig macht, sind misslungene zwischenmenschliche Beziehungen.

«Wir haben noch immer das Narrativ vom Bauarbeiter, der am Ende seiner Karriere verbraucht sei. Dabei ist es heute vielmehr der psycho­soziale Stress, der uns zusetzt. »

Elisabeth Michel-Alder, Sozialwissenschaftlerin und Expertin für das Thema Arbeit 50plus

Empfehlen Sie älteren Mitarbeitenden, im gleichen Beruf zu bleiben oder sich nochmals neu zu orientieren?

Elisabeth Michel-Alder: Ich glaube, es gibt nicht ein Rezept. Wichtig sind regelmässige Standortbestimmungen, in denen Arbeitgeber und -nehmer zusammen die Möglichkeiten ausloten. Insgesamt könnten wir viel experimenteller werden und den firmeninternen Arbeitsmarkt offener behandeln. Wieso nicht einmal in eine andere Abteilung wechseln oder sich rechtzeitig ein zweites Standbein aufbauen und dann gegen Ende der Karriere umsatteln? Das braucht vielleicht nochmals etwas Weiterbildung, aber so bleiben wir wach und beweglich. Wenn man im gleichen Job bleibt, besteht die klare Erwartungshaltung, dass der Arbeitgeber, falls gewünscht, um die Verlängerung über 64/65 hinaus bittet. Das hat ein kürzlich von mir initiiertes Citizen Science-Projekt ergeben, in welchem wir Lebensläufe von Menschen analysiert haben, die über die Pensionierung hinaus arbeiten.

Kennen Sie Beispiele von Unternehmen, bei denen die Weiterbeschäftigung von Mitarbeitenden über das Pensionsalter bereits etabliert ist?

Elisabeth Michel-Alder: Bei Roche zum Beispiel kann man bis 70 arbeiten und ein Viertel der Belegschaft macht es. Das ist viel. Es gibt drei Möglichkeiten: im gleichen Job arbeiten, projektbezogene, punktuelle Arbeit oder ein neuer Job im Unternehmen. Der Lohn wird je nach Funktion und Pensum reduziert, die Beiträge für die 2. Säule bleiben bestehen. Die Motivation für diese Leute ist in der Regel aber nicht das Geld – klar, den Extrabatzen nimmt man gerne – aber was wirklich zählt, ist der Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen und die sinnvolle Beschäftigung.

Arbeit ist das eine, aber es gibt ja auch noch andere, sinnstiftende Tätigkeiten?

Elisabeth Michel-Alder: Ja, das sehe ich auch so. Es muss nicht unbedingt bezahlte Arbeit sein, auch ehrenamtliche Arbeit nach der Pensionierung ist gut und erwünscht. Die Voraussetzung ist jedoch, dass sie eine Verbindlichkeit beinhaltet. Nur so kann man sich weiterentwickeln und bleibt agil. Wenn ich nach Lust und Laune einen Krankenbesuch im Spital machen kann, dann bringt mich das persönlich nicht unbedingt weiter. Erst wenn ich gefordert werde, Verantwortung übernehmen muss und reflektiere, was ich nächstes Mal besser machen könnte, ist der Grundstein für Entwicklung gelegt und ich lerne mit Situationen intelligent umzugehen. Das befriedigt und hält gesund.

Also nichts mit Ferienhaus umbauen und Enkelkinder hüten?

Elisabeth Michel-Alder: Doch, wer das tun will, soll. Aber auch da würde ich gerne beliebt machen, dass man wieder einsteigen kann, selbst wenn man eine Zeitlang nicht gearbeitet hat. Meine Beobachtung, und was ich aus Studien kenne, ist, dass viele nach ein, zwei Jahren «Freiheit» gerne wieder gewisse Aufgaben übernehmen wollen, wenn auch nicht zu 100 Prozent. Lange sollte die Auszeit allerdings nicht dauern, sonst traut man sich die Arbeit irgendwann nicht mehr zu. Ich erinnere mich an zwei Jahre Mutterschaftsurlaub in Deutschland. Nach der Halbzeit sagten viele Frauen, sie wüssten nicht mehr, ob sie dem Betrieb noch gewachsen wären. Und ich begriff sie. Man muss dranbleiben.

«Viele Grosskonzerne haben in den letzten Jahren Diversity-Stellen geschaffen. Beim Rekrutieren balgen sie sich aber doch alle um die Jungen.»

Elisabeth Michel-Alder, Sozialwissenschaftlerin und Expertin für das Thema Arbeit 50plus

Warum ist es für Ü50-Jährige oftmals schwierig einen Job zu finden?

Elisabeth Michel-Alder: Der Grund dafür sind meist weitverbreitete Altersstereotypen, wie zum Beispiel, dass ältere Menschen nicht mehr innovativ seien. Wir gehen von einem antiquierten Bild aus und orientieren uns an der Generation unserer Grosseltern. Wir haben diese Idee, dass ältere Leute nicht entwicklungsfähig sind. Dabei kenne ich genauso viele Jugendgreise, die schon mit 16, mit Krawatte um den Hals, ins Grab sinken könnten. Schauen Sie sich Frau Merkel an, die war mit 67 die wahrscheinlich beweglichste politische Figur in der deutschen Politik und von einem Picasso hätte niemand mit 65 verlangt, dass er den Pinsel weglegt. Warum können wir nicht alle ein bisschen Picassos sein? Reifere Mitarbeitende haben auch den Ruf, für die Führung anspruchsvoll zu sein.

Und? Sind sie es auch?

Elisabeth Michel-Alder: Ja, ich denke, das hat etwas sehr Reales. Wir haben einen stark an Belohnungen orientierten Arbeitsmarkt, in dem Beförderung und mehr Lohn gemeinhin viel gelten. Nach 50 stagnieren jedoch die Löhne und die Aufstiegsmöglichkeiten nehmen ab. Viele 50-Jährige lassen sich deshalb auch nicht mehr alles sagen, während 30-Jährige noch eher über Inkompetenzen in der Führungsebene hinwegsehen, weil sie die Referenz für ihren nächsten Karriereschritt brauchen.     

Glauben Sie, Firmen werden mehr ältere Mitarbeitende einstellen, wenn die Babyboomer bis 2029 in Pension gehen und der Fachkräftemangel zunimmt?

Elisabeth Michel-Alder: Ich weiss es nicht, denn auf diese Bewegung warte ich schon seit 10 Jahren, die Tatsache der schmalen nachrückenden Generationen ist bekannt. Viele Grosskonzerne haben in den letzten Jahren Diversity-Stellen geschaffen. Meine Beobachtung ist allerdings, dass sie sich vor allem um das Genderthema kümmern. Beim Rekrutieren balgen sie sich um die raren Jungen, nicht um Ältere. Verständlich, niemand will ein Grufty-Image, aber kurzsichtig. Dieser Trend wird wahrscheinlich nicht so bald abflachen. Bei den KMUs könnte es schneller gehen, weil sie nicht auf den gleichen Pool an Arbeitskräfte zugreifen können. Es gibt auch grosse regionale Unterschiede: Während Zürich als attraktiver Arbeitsmarkt eine grosse Anziehung hat, haben Unternehmen im Thurgau und Glarus mehr Mühe, Studienabgänger und -abgängerinnen zu rekrutieren. Abseits der Zentren können ältere Mitarbeitende künftig schneller eine Stelle finden.

Zur Person

Elisabeth Michel-Alder, Sozialwissenschaftlerin, führt seit über 20 Jahren eine Unternehmensberatung in Zürich.

Als Mitgründerin des Netzwerkes Silberfuchs befasst sie sich mit dem Thema Ü50 in der Arbeitswelt. 2018 erschien ihr Buch «Länger leben – anders arbeiten».

 

 

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Letzte Aktualisierung: 18.03.2022