Sonntagsblick: Herr Hess, führt der starke Franken zu einem «blutigen Herbst» für die Arbeitnehmer?
Hans Hess: Nein, aber mit Lohnerhöhungen ist kaum zu rechnen. Oder keinen grossen. Das ist kein Drama. In der ersten Hälfte des nächsten Jahres werden die Preise leicht rückgängig sein. Die Kaufkraft der Mitarbeiter bleibt erhalten.
Branchenweit gibt es nichts oder bis zu 0,5 Prozent mehr?
Das werden wir sehen. Ein Drittel der Firmen, vor allem KMU’s, schreibt Verluste, wie wir vorausgesagt haben. Da gibt es wohl keine Erhöhung. Ein Drittel leidet stark, die machen wenig. Der Drittel, dem es gut geht, kann sich etwas mehr leisten.
Wie viele Mitarbeiter verlieren den Job wegen der Krise?
Viele Firmen setzen moderate Abbaupläne um. Ein Teil davon ersetzt einfach Abgänge nicht. Daher wird die Arbeitslosigkeit zunehmen, aber nicht dramatisch. Wir werden auch weitere Verlagerungen von Arbeitsplätzen ins Ausland sehen.
Konkret: Wie hoch fällt der Abbau aus?
Ein Abbau von 2-3 Prozent der Stellen ist leider realistisch. Das bedeutet für unsere Branche 2012 einen Verlust von 10000 Stellen. 97 Prozent oder 320000 Stellen bleiben aber erhalten. Es gibt keine Desindustrialisierung der Schweiz, wenn der Eurokurs von 1,2 Franken gehalten werden kann.
Sie sagten am Industrietag Ende Juni: «Unser Haus steht in Flammen.» Die SNB konnte den Brand also eindämmen.
Ja. Im Sommer bestand die akute Gefahr einer flächendeckenden Verlagerung der Arbeitsplätze. Wenn die Notenbank die Frankenaufwertung nicht gestoppt hätte, wäre die Industrielandschaft Schweiz umgepflügt worden. Aber rund die Hälfte der Firmen muss 2012 nochmals Massnahmen auf der Kostenseite treffen, um ihre Konkurrenzfähigkeit zu stärken.
Ein Euro kostet 1,23 Franken - 22 Prozent mehr als im August. Nicht schlecht, eigentlich?
Das ist eindeutig gut. Aber auch bei einem Kurs von 1,20 sind unsere Produkte immer noch über zehn Prozent teurer als die unserer ausländischen Konkurrenz...
...weil der Franken mehr als 10 Prozent überbewertet ist.
Wenigstens ist nun eine gewisse Stabilität und damit Planungssicherheit vorhanden. Der ideale Kurs wäre beim Euro die Kaufkraftparität von 1,35 Franken. Daher wünschen wir eine weitere Abwertung des Frankens.
Das war wohl ein Thema des Gesprächs zwischen Swissmen, den Gewerkschaften und der Schweizerischen Nationalbank (SNB) vom Donnerstag.
Wir haben der SNB zuerst ein Mal gedankt, dass sie mit 1.20 eine Untergrenze des Frankenkurses gegenüber dem Euro gesetzt hat. Wir sagten auch, dass dieser Kurs für die Exportindustrie noch nicht ausreicht. Unsere Mitgliederfirmen müssen relativ harte Massnahmen ergreifen, um 2012 die Kosten zu senken. Wir wären daher froh, wenn es der SNB gelänge, den Franken noch weiter zu schwächen.
Sie haben also eine Anhebung der Mindestgrenze gefordert?
Wir überlassen die Wahl der Massnahmen gerne der SNB. Diese müssen glaubwürdig sein. Letztlich ist jetzt entscheidend, ob die Regierungsvertreter Europas und der G20 rasch eine glaubwürdige Antwort auf die Probleme mit dem Euro finden.
Bis dann bleiben die Margen Ihrer Branche unter Druck.
Immerhin können wir jetzt vernünftig budgetieren. Aber mit 1.20 erwirtschaften viele Firmen deutlich zu geringe Margen oder schreiben gar Verluste. Dazu kommt die Abschwächung der Konjunktur. Wir rechnen nicht mit einer dramatischen Rezession. Doch die Aufschwungphase ist wohl für einige Quartale vorbei.
Brechen die Aufträge weg?
Sie gingen im zweiten Quartal um drei Prozent zurück. Jetzt hat sich die Situation stabilisiert. Einen Absturz der Auftragseingänge sehen wir nicht. Aber frühzyklische Branchen wie die Halbleiter- und die Textimaschinenindustrie mussten bereits deutlichen Einbruch von mehr als 10 Prozent hinnehmen.
Es gibt eine weitere Trendwende: Im September beantragte angeblich nur eine Firma eine Erhöhung der Arbeitszeit bei gleichem Lohn.
Weniger als 30 unserer 1000 Mitgliedfirmen haben Mehrarbeit eingeführt. Sie trafen diese Massnahme vor der SNB-Intervention. Das macht nur Sinn, wenn man mehr Aufträge hat. Wegen des rückläufigen Auftragseingangs werden wohl die meisten Firmen damit Ende Jahr wieder aufhören.
Sie loben die Nationalbank. Was fordern Sie vom neuen Parlament?
Ich erwarte, dass die mit dem Konjunkturprogramm von 870 Millionen Franken aufgegleiste Innovationsförderung keine Eintagsfliege bleibt. Die Mittel, die Bund und Kantone für die Innovationsförderung, die Forschung und die Ausbildung ausgeben, dürfen nicht beschnitten werden.
Also mehr Bildung, statt Flugzeuge für die Armee!
Wenn ich wählen müsste: Ja. Aber es gibt auch andere Bereiche, wo man sparen kann. Ich hoffe, dass das Parlament den Mut hat, weiter in die Innovationsförderung und die Forschung zu investieren. Zudem fordere ich, dass Unternehmen nicht mit weiteren Abgaben und Steuern belastet und die Rahmenbedingungen für die Schweizer Industrie verbessert werden. Beispielsweise in dem man die Freihandelsabkommen mit China und Indien vorantreibt. Das wäre eine Riesenunterstüzung für die Exportwirtschaft, deren Wachstumschancen in den nächsten Jahren primär in Asien liegen.
Die SVP fordert vehement, die Personenfreizügigkeit zu beschneiden. Kann sich die Industrie das leisten?
Um innovativ zu bleiben, benötigen wir genügend Fachkräfte. Die Personenfreizügigkeit darf daher nicht angetastet werden. Wenn wir diese beschneiden wollen, werfen wir das bilaterale Abkommen über Bord. Damit schaufeln wir unser eigenes Grab. Aber wir müssen Missbräuche wie Lohndumping oder Scheinselbständigkeit im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten unterbinden. Und schliesslich benötigen wir eine Energiepolitik, die eine permanente, bedarfsorientierte Versorgung zu günstigen Preisen sicherstellt, ohne Auslandabhängigkeit.
Heisst das: Sie lehnen den Ausstieg aus der Atomenergie ab?
Wir lehnen den Ausstieg nicht a priori ab. Aber man kann darüber erst entscheiden, wenn man wirklich weiss, was dieser Ausstieg bedeutet und was es kostet, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Diese Informationen sind heute nicht vorhanden.