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Versorgungssicherheit: «Wir brauchen Verträge mit den europäischen Partnern»

Die Energieversorgungslage für den bevorstehenden Winter zeigt sich besser als erwartet, aber Unsicherheiten bleiben. Bastian Schwark, Leiter Fachbereich Energie bei der Wirtschaftlichen Landesversorgung, zeigt auf, mit welchen Massnahmen sich der Bund auf eine Energieknappheit vorbereitet hat, was die Herausforderungen beim Aufbau einer Plattform für den Kontingentenhandel sind und was letztlich passieren muss, damit uns das Thema Versorgungssicherheit nicht jedes Jahr wieder aufs Neue beschäftigt.

Herr Schwark, wie bewerten Sie die Energieversorgungslage für den kommenden Winter im Bereich der Gas- und Stromversorgung?

Bastian Schwark: Grundsätzlich haben wir eine wesentlich verbesserte Ausgangsbedingung als noch vor einem Jahr. Die Füllstände unserer Speicherseen bewegen sich auf dem Niveau der Vorjahre. Die Gasspeicher in Europa sind sogar fast vollständig gefüllt. Zudem hat Frankreich eine normale Verfügbarkeit der Kernkraftwerke für den nächsten Winter angekündigt. Gesamthaft sind dies sehr positive Faktoren. Dennoch darf man andere Faktoren wie das Wetter und die grundsätzliche Importabhängigkeit der Schweiz nicht ausser Acht lassen. In einem sehr kalten Winter könnten die europäischen Importe deutlich reduziert sein.

Welche Massnahmen haben die Bundesämter für Energie (BFE) und wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) ergriffen, um die Versorgungssicherheit im Energie- und Rohstoffsektor für den Winter zu gewährleisten?

Es wurde ein ganzes Bündel an Massnahmen ergriffen. Auf Initiative des BFE wurde beispielsweise die Wasserreserve eingerichtet, bei der man einen gewissen Teil des Speicherwassers für die Wintermonate reserviert. Zudem veranlasste es den Bau des Reservekraftwerks Birr und das Poolen von Notstromaggregaten, um diese in sehr angespannten Situationen oder Mangellagen als Notstromgruppe einzusetzen. Schliesslich wurden von Seiten des BWL die Verordnungsentwürfe für die Verbrauchslenkung detailliert, in welchen die Massnahmen im Einzelnen beschrieben werden, welche in einer Strom- und Gasmangellage zur Anwendung kämen. Hierzu zählt zum Beispiel auch die Kontingentierung der Grossverbraucher.

Inwiefern spielen die Erfahrungen aus dem vergangenen Winter eine Rolle bei der Vorbereitung auf die kommende kalte Jahreszeit? Was waren die Learnings?

Richtig lehrreich wird es immer, wenn ausgearbeitete Konzepte tatsächlich umgesetzt werden sollen. Glücklicherweise hatten wir im letzten Winter keinen Mangel, dennoch aber eine angespannte Situation. Diese hat zum Vorschein gebracht, dass wir bei manchen Konzepten gut vorbereitet gewesen waren, bei anderen aber Nachholbedarf hatten. Darauf haben wir uns in den letzten Monaten fokussiert.

Können Sie mehr dazu sagen? In welchen Bereichen musste nachjustiert werden?

Die Kontingente für sogenannte Multi-Site Verbraucher (MSV), also Firmen mit vielen Verbrauchsstätten in der Schweiz, hätten sich im letzten Winter lediglich innerhalb eines Verteilnetzgebiets verschieben lassen. Für den kommenden Winter wurden die Voraussetzungen geschaffen, dass Multi-Site Verbraucher ihre Kontingente im Falle einer Mangellage auch verteilnetzübergreifend optimieren können. Der MSV muss sich lediglich hierzu vorgängig beim Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE) mit den Betriebsstätten registrieren, um Kontrollen durchführen zu können. Grundsätzlich hat die Wirtschaft hiermit eine flexible und einfache Lösung.

Welche Herausforderungen und Risiken gibt es für die Versorgungssicherheit im nächsten Winter?

Interessanterweise gibt es verschiedene Nuancen in der Beschreibung der Lage für den nächsten Winter. Stand heute haben wir kein Problem. Allerdings hat es der Winter an sich, dass er besonders kalt werden kann - mit der Folge, dass Importe aus dem Ausland gegebenenfalls nicht mehr im gleichen Umfang zur Verfügung stehen. So ist Frankreich grundsätzlich ein grosser Exporteur, benötigt aber in einem strengen Winter die produzierte Elektrizität vollumfänglich für sich selbst und muss sogar importieren, um die stark ansteigende Last zu decken. Da hilft es nicht, dass Deutschland im letzten Winter die verbleibenden Kernkraftwerke abgeschaltet hat und gleichzeitig einen Ausstieg aus der Kohleverstromung vollzieht, jedoch die erneuerbaren Energien noch nicht im notwendigen Masse ausgebaut hat.

Wie lässt sich das Risiko einer Energiemangellage minimieren?

Da wir in Europa eingebettet sind und von Importen abhängig sind, müssen wir durch internationale Verträge Sicherheit schaffen. Im Gasbereich konnte ein Vertrag zu sogenannten Italien-Optionen geschlossen werden, so dass im Gasmangellagenfall die Schweiz auf die italienischen Importoptionen an der Französisch-Schweizerischen Grenze zurückgreifen kann. Dies ersetzt jedoch nicht die Notwendigkeit vollumfänglicher bilateraler Verträge mit den Nachbarn, respektive der EU, für Strom und Gas.

Was empfehlen Sie Grossverbrauchern – insbesondere energieintensiven Industrieunternehmen, um sich auf mögliche Engpässe im Winter 2023/2024 vorzubereiten?

Jedes Unternehmen ist grundsätzlich selbst verantwortlich, geeignete Vorbereitungsmassnahmen für einen Mangellagenfall zu definieren und diese auch umzusetzen. So gibt es zum Beispiel im Gasbereich leider keine Garantie zur unterbrechungsfreien Versorgung für nicht geschützte Kunden wie der Industrie im Falle einer Mangellage.

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Welche Bedeutung hat der Kontingentenhandel, sprich die Möglichkeit, im Falle einer Kontingentierung die Verbrauchsrechte zu handeln?

Die Idee ist es, der Wirtschaft die maximale Flexibilität zu lassen, Kontingente untereinander auszutauschen und zu handeln. Der Aufbau einer entsprechenden Plattform liegt explizit bei der Wirtschaft selbst. Herausfordernd ist natürlich der Aufbau und Betrieb einer solchen Plattform, da in ruhigen Zeiten nur wenig Interesse daran besteht und in einer angespannten Situation kurz vor einer Mangellage die Plattform überrannt wird.

Wo stehen wir in der Entwicklung dieser Plattform und welche Rolle kommt dabei dem Bundesamt für Wirtschaftliche Landesversorgung zu?

Es gibt derzeit eine privatwirtschaftliche Initiative, welche eine Plattform für den Kontingentenhandel aufgebaut hat. Das BWL selbst ist hier nicht aktiv. Für Strom benötigt es jedoch eine Schnittstelle zwischen der Plattform und der OSTRAL (der Organisation für Stromversorgung in ausserordentlichen Lagen), damit ein gewisses Mindestmass an Kontrolle möglich ist. Zudem ist es das Ziel, in der Zukunft weg von postalisch verschickten Kontingenten zu kommen und alle Kontingente mittels einer schlanken IT-Lösung zuzusprechen.

Kann sich die Industrie darauf verlassen, dass die sehr teuer beschafften Reservekapazitäten am Netz sind, bevor die Unternehmen kontingentiert werden?

Der Einsatz der Reservekraftwerke ist letztendlich ein politisches Thema, da es verschiedene Interessen und Argumente dafür und dagegen gibt. Die Industrie wird sicherlich auf einen frühen Einsatz drängen, gewisse rechtliche Rahmenbedingungen sprechen jedoch dagegen, wie zum Beispiel Umwelt- und Lärmschutz. Es wird wichtig sein, die Lage in einer angespannten Situation eng zu monitoren, um einen sinnvollen Einsatzzeitpunkt zu ermöglichen.

Was muss geschehen, damit uns das Thema Versorgungssicherheit nicht jeden Winter aufs Neue beschäftigt?

Ganz Europa möchte sich bis zur Hälfte des Jahrhunderts dekarbonisieren, was letztendlich eine Zunahme der Elektrifizierung bedeutet, egal ob Heizung, Transport oder Industrie. Der Strom hierzu muss in Europa entsprechend CO2-frei produziert werden. Wo und wie dies geschehen soll, ist eine zu führende gesellschaftliche Debatte. Wichtig dabei ist, dass man schnell vorankommt und den Zubau nicht auf die lange Bank schiebt. Und zuletzt braucht es internationale Verträge mit den europäischen Partnern, damit Solidarität im Mangellagenfall nicht nur auf Goodwill beruht.

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Letzte Aktualisierung: 27.10.2023