Seit fast 50 Jahren bewegt kein Thema unsere Politik so stark wie das Verhältnis zu Europa – unserem wichtigsten Werte- und Wirtschaftspartner. Mitte Juni wurden die neuen Verträge publiziert. Das Schweizer Volk wird spätestens 2028 über die Zukunft des Bilateralen Wegs entscheiden. Das wird hitzig.
Swissmem unterstützt diese Verträge. Der Beschluss im Vorstand war einstimmig. Somit hat sich der grösste Branchenverband der Tech-Industrie, die fast 330'000 Mitarbeitende beschäftigt und 7% des BIP erwirtschaftet, klar positioniert.
Die UnterstĂĽtzung hat allerdings eine wichtige Bedingung: Der flexible Arbeitsmarkt muss bestehen bleiben. Das bedeutet, dass das mit den Sozialpartnern ausgehandelte Lohnschutzpaket integral vom Parlament verabschiedet werden muss.
Der vom Bundesrat vorgeschlagene erweiterte Lohnschutz fĂĽr Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitnehmenden muss auf ein realistisches Mass zurĂĽckgestutzt werden. Wir wollen kein Zweiklassensystem bei den Mitarbeitenden. Zudem lehnt Swissmem aus finanzpolitischen GrĂĽnden die Beteiligung am Studentenaustauschprogramm Erasmus+ ab.
Bei den Niederlassungsbewilligungen im Rahmen der neu verhandelten Personenfreizügigkeit musste die Schweiz Kompromisse eingehen. Diese müssen von Bund und Kantonen durch maximale Härte beim Asylmissbrauch kompensiert werden. Nur wer im Heimatland verfolgt ist und sich hier integriert, soll bleiben dürfen. Der Rest muss gehen.
Die zentralen Themen sind jedoch die Streitschlichtung und die dynamische Rechtsübernahme. Hier hat der Bund sehr gut verhandelt. Ich will nachfolgend die Unwahrheiten der Gegner der Bilateralen III aus dem Weg räumen:
- Die dynamische Rechtsübernahme betrifft maximal sechs Marktzutrittsabkommen. Alle beteiligten Staaten – auch die Schweiz (!) – haben ein Interesse, dass alle nach den gleichen Regeln spielen. Konkret betrifft es fünf bestehende Verträge (Land- und Luftverkehr, Technische Handelshemmnisse, Personenfreizügigkeit, landwirtschaftliche Güter) und neu das Stromabkommen.
- In vielen Abkommen haben wir Ausnahmen ausgehandelt. Beim Nachtfahr- und 40-Tönnerverbot, im Lohnschutz, bei der Ausschaffung straffälliger Ausländer, beim ÖV-Tarifsystem sowie beim Taktfahrplan müssen wir bei der Weiterentwicklung der EU-Vorschriften oder der Praxis des Europäischen Gerichtshof (EuGH) nicht mitmachen.
- Insgesamt muss die Schweiz 95 EU-Rechtsakte übernehmen. Davon betreffen 64% die Lebensmittelsicherheit. Mehrwertsteuer-, ESG- und Umweltvorschriften müssen NICHT übernommen werden. Wer etwas anderes behauptet, hat die Verträge nicht gelesen.
Damit zur Streitschlichtung: Die Schweiz verpflichtet sich grundsätzlich, in den oben genannten, klar eingegrenzten Bereichen EU-Normen zu übernehmen. Tut dies die Schweiz nicht, sind die Rechte und Pflichten nicht mehr im Gleichgewicht. Durch Ausgleichsmassnahmen soll dieses wiederhergestellt werden.
Falls in einem Streitfall der Gemische Ausschuss keine Lösung findet, können einzig die Schweiz oder die EU-Kommission die Einsetzung eines paritätisch besetzten Schiedsgerichts verlangen. Niemand sonst. Das Schiedsgericht – und nur das Schiedsgericht – kann den EuGH unter klar festgelegten Bedingungen für die juristische Auslegung eines Falls beiziehen. Der EuGH kann nicht von sich aus aktiv werden. Voraussetzung für den Beizug ist, dass die Auslegung oder Anwendung einer EU-Bestimmung für die Lösung des Falles notwendig ist und EU-Rechtsbegriffe umfasst. Die Interpretation des EuGH ist für das Schiedsgericht bindend. Der EuGH legt aber keine Ausgleichsmassnahme fest. Das ist Aufgabe des Schiedsgerichtes.
Kommt das Schiedsgericht zum Schluss, dass eine Vertragspartei ihre Pflichten verletzt hat, oder stellt es fest, dass infolge der Nichtübernahme einer EU-Bestimmung das Gleichgewicht zwischen Rechten und Pflichten der beiden Parteien nicht mehr gegeben ist, kann die Gegenpartei Ausgleichsmassnahmen ergreifen. Sie haben damit keinen Strafcharakter - anders als Bussen des EuGH gegen Mitgliedstaaten. Sie sollen das Gleichgewicht wiederherstellen und müssen entsprechend verhältnismässig sein. Zudem dürfen sie nur im Rahmen der sechs Binnenmarktabkommen getroffen werden. Das Schiedsgericht prüft, ob die Verhältnismässigkeit der Massnahmen gegeben ist. Erst danach treten sie in Kraft.
Fazit: Das Abkommen ist klar im Interesse der Schweiz, auch wenn sie Kompromisse eingehen musste. Der neue Streitschlichtungsmechanismus bringt uns in eine bessere Position als bisher. Statt willkürlicher Massnahmen wie beim Entzug der Börsenäquivalenz wird es nur noch verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen geben. Gleiches kann die Schweiz bei einer Ungleichbehandlung auch verlangen. Der Streitschlichtungsmechanismus ist komplex, aber gut wie eine Schweizer Uhr.
Veröffentlicht am 8. Juli 2025 in der Aargauer Woche.
Bilaterale III: Entscheid Swissmem-Vorstand
Nach eingehender Prüfung unterstützt Swissmem das Vertragspaket der Bilateralen III. Das hat der Verbandsvorstand einstimmig entschieden. Die Abkommen sichern für die stark exportorientierte Schweizer Tech-Industrie (Maschinen-, Elektro- und Metall-Industrie sowie verwandte Technologiebranchen) den hindernisfreien Zugang zum europäischen Absatzmarkt – mit 55% Exportanteil der mit Abstand grösste – und stärken die Rechtssicherheit. Zudem berücksichtigen die Bilateralen III in angemessener Weise die Interessen der Branche bei der Forschungszusammenarbeit und der Versorgungssicherheit mit Strom. Entscheidend bleibt jedoch, dass der liberale Arbeitsmarkt erhalten bleibt. Deshalb muss die Massnahme 14 zum Kündigungsschutz angepasst werden.