Das Netto-Null-Klimaziel ist Gegenstand des Klima- und Innovationsgesetzes. Wie steht es mit wirtschaftstauglichen Dekarbonisierungslösungen für die Industrie und die Energieversorgung?
Swissmem unterstützt das Netto-Null-Ziel 2050. Als erstes Land der Welt hat die Schweiz dies demokratisch legitimiert. Wir wollen und können Vorreiterin sein. Die Herausforderung ist je nach Sektor aber riesig.
Die Dekarbonisierungs-Knacknuss der Tech-Industrie ist die fossilfreie Erzeugung von Hochtemperatur-Prozesswärme. Diese ist insbesondere in der metallverarbeitenden Industrie unverzichtbar. Das Elektrifizierungspotenzial ist zwar gross – vermutlich sogar grösser als bisher angenommen – insbesondere, wenn sich auch Ofenbauer in Forschung und Entwicklung verstärkt darauf ausrichten. Bei gewissen metallurgischen Prozessen wird man jedoch auch künftig prozessbedingt auf eine gasbefeuerte Oberflächenbehandlung angewiesen sein – aufgrund spezifischer Eigenschaften und Anforderungen.
Die Swissmem-Mitgliedfirmen decken ihren Gesamtenergiebedarf bereits heute zu knapp zwei Dritteln mit Strom. «Fossilfreier» Strom zu wettbewerbsfähigen Preisen sowie eine hohe Versorgungssicherheit sind Prämissen für einen zukunftsfähigen Industriestandort Schweiz. Mit dem Auslaufen der bestehenden Kernenergie fehlt uns künftig eine gewaltige Menge an eigenem Strom – insbesondere in den Wintermonaten, in denen die Photovoltaik-Anlagen zu wenig und unzuverlässig produzieren und Windkraftanlagen infolge Akzeptanzproblemen nicht gebaut werden.
Grosse Potenziale aber auch viel ErnĂĽchterung
Grüner Wasserstoff kann grundsätzlich praktisch alle energie- und emissionsintensiven Sektoren dekarbonisieren und als speicherbarer Energieträger einen Beitrag für eine höhere Versorgungssicherheit leisten. Das erklärt eventuell den «Hype» um Wasserstoff in den vergangenen Jahren. Hierzu passt ein Zitat von Michael Liebreich, einem internationalen Experten für neue Energien: «Wasserstoff ist wie ein Schweizer Taschenmesser, man kann damit fast alles machen…». Michael Liebreich untersucht aber auch seit Jahren, was davon technisch-ökonomisch sinnvoll ist und was nicht. Gut dargestellt ist dies auf seiner «clean hydrogen ladder». Daraus abgeleitet ist dann auch der zweite Teil des Liebreich-Zitats zum Taschenmesser: «…aber für die allermeisten Anwendungsfälle gibt es schliesslich etwas Besseres als Wasserstoff». So kann man mit dem «Sackmesser» bspw. Dosen öffnen. Dafür gibt es aber etwas Effizienteres. Gleiches gilt für das Schleifen von Nägeln, Anziehen von Schrauben, Öffnen von Briefen usw. Jüngste Meldungen von verschiedenen Herstellern schwerer Nutzfahrzeuge, die ihre H2-Fahrzeugpläne auf Eis legen, zeugen von diesem etwas ernüchternden «Realitäts-Check». Dennoch verbleiben in vielen Sektoren spezifische Anwendungen, wo der Einsatz von H2 unverzichtbar wird.
Von der H2-Produktion über Transport und Speicherung bis zu den Anwendungen entsteht eine zukunftsträchtige Wertschöpfungskette. Die exportorientierte Schweizer Tech-Industrie wird auf globaler Ebene einen Beitrag leisten können, um diese Potenziale zu erschliessen.
Das «Henne-oder-Ei»-Problem bremst
Die Verwendung von H2 für die Erzeugung von Hochtemperatur-Prozesswärme setzt in der Regel neue, H2-fähige Öfen voraus sowie die dafür notwendige periphere Infrastruktur für den sicheren Umgang mit H2. Die spezifischen Transformationskosten von Erdgas auf H2 scheinen bei vielen Endverbrauchern, z.B. in der produzierenden Industrie resp. auf einem Industrieareal, wesentlich höher zu sein als bei den Gasversorgern für das H2-Upgrade der Gasleitungsinfrastruktur. Kein Wunder, tut sich die Industrie etwas schwer mit H2-Bedarfsabschätzungen. Überdies plant kaum jemand Millionen-Investitionen in neue Ofentechnik und Sicherheitsinfrastruktur, solange keine resiliente und wirtschaftlich tragbare Versorgung mit grünem H₂ besteht. Damit wiederum fehlt den Investoren und Versorgern die Absatzsicherheit, um H2-Elektrolysekapazitäten oder -Pipelines zu bauen – das berühmte «Henne-Ei-Problem».
Bildung von H2-Cluster
Der künftige H2-Bedarf orientiert sich zum einen wohl am Bedarf der nicht elektrifizierbaren Hochtemperatur-Prozesswärme und zum anderen an der Entwicklung sogenannter H2-Cluster. Ein H2-Cluster zeichnet sich über eine lokal möglichst hohe, vertikal integrierte H2-Wertschöpfungskette aus. Ein H2-Cluster deckt somit die Bereiche H2-Produktion, Verteilung und Verbrauch in einem räumlich beschränkten Perimeter ab. Ein Beispiel dafür ist der H2-Hub Schweiz, eine Drehscheibe für grünen Wasserstoff in der Region Basel und für die Schweiz. Es ist davon auszugehen, dass für den H2-Verbrauch keine strikte (Hoch-)Temperaturgrenze gilt, sondern in Regionen, in denen H2 für Hochtemperatur-Prozesse eingesetzt wird, auch die umliegende Industrie mit niedrigeren Temperaturen auf H2 zurückgreift. Dafür wiederum ist es zentral, dass sich Akteure entlang der H2-Wertschöpfungskette möglichst rasch zur Bildung entsprechender Cluster zusammenfinden. Einen wesentlichen Beitrag dafür leistet die neue Axpo-Plattform «MATCH2», welche potenzielle H2-Produzenten und -Verbraucher vernetzt.
Hier geht es zur Axpo MATCH2-Plattform – das digitale Netzwerk für grünen Wasserstoff und Derivate.
Swissmem-Prämissen für einen erfolgreichen H2-Hochlauf
Die Politik muss für die komplette H2-Wertschöpfungskette praktikable und möglichst national einheitliche Rahmenbedingungen schaffen. Die H2-Produzenten brauchen Planungssicherheit und Absatzperspektiven für die Erstellung von Erzeugungsanlagen und Transport- resp. Leitungsinfrastruktur. Die Industrie als potenzielle H2-Verbraucherin benötigt eine nennenswerte Nachfrage nach «grünen Produkten», wie z. B. grünem Stahl, als Sicherheit für hohe Investitionen in Umrüstung von Infrastrukturen und in teurere Brennstoffe sowie für Forschung und Entwicklung von innovativen, skalierbaren H2-Lösungen. Weil die Schweiz bei erneuerbaren Gasen noch stärker als beim Strom von Importen abhängig sein wird, ist ein EU-kompatibles «grünes» Herkunft-Nachweis-System (HKN) wie im Strombereich wichtig. Für einen raschen, möglichst parallelen Hochlauf von H2-Infrastrukturen sollten befristet nicht zu strenge Kriterien an die H2-Qualität gestellt werden. Um die kosteneffizienteste Produktion und Skalierung von grünem Wasserstoff zu fördern, braucht es rasch eine steigende Nachfrage nach H2. Dafür muss die Verwendung von grünem Wasserstoff «buchhalterisch» via HKN oder «book&claim» möglich sein, unabhängig von einem physischen Import.
No Regret Options – Was ohnehin zu tun ist
Die grösste Herausforderung ist wie oft nicht technischer, sondern politischer Natur: Mit welchen regulatorischen Rahmenbedingungen können Infrastruktur, Produktion und Verbrauch rasch und wenn möglich gleichzeitig reifen? Wenn dies gelingt, kann H₂ ein Baustein für eine weiterhin wettbewerbsfähige und klimaneutrale Industrie sein. Angesichts der erwähnten Unsicherheiten entlang der H2-Wertschöpfungskette stellt sich die Frage, was unabhängig von verschiedenen H2-Verbrauchsszenarien, quasi als kleinster gemeinsamer Nenner, dringend zu tun ist. Swissmem sieht folgende sogenannte «no regret options»:
- Handlungsoptionen schaffen: Anschluss der Schweiz an das europäische H₂-Kernnetz (EU Hydrogene Backbone) rasch sicherstellen. Dies schafft langfristige Versorgungssicherheit und erhöht die Resilienz des Schweizer Energiesystems.
- Geostrategisch handeln: Transitgas-Pipeline für den H₂-Transport vorbereiten. Auch ohne sofortigen H2-Eigenverbrauch in der Schweiz können wir eine Rolle als Gas-Transitland und H₂-Handelsdrehscheibe auf der Nord-Süd-Achse spielen, in Analogie zu Gotthard und NEAT sowie zur heutigen Erdgas-Transitpipeline. Diese Investition hat auch strategischen Charakter in Diskussionen und Verhandlungen mit der Europäischen Union (EU).
- Pilot- und Demonstrationsprojekte fördern: Dies schafft Daten, Vertrauen und technische Reife.
Fazit
Wasserstoff ist für die Dekarbonisierung der Schweizer Wirtschaft weder reiner Hype noch Wunderlösung. Doch es wäre fahrlässig, nicht heute schon Grundlagen zu schaffen, die morgen entscheidend sein könnten – für Dekarbonisierung, Energiesouveränität und Wettbewerbsfähigkeit. Sogenannte «No Regret»-Massnahmen helfen, Technologiepfade offen zu halten, Optionen zu entwickeln und bei Bedarf zu skalieren.
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