Für die MEM-Industrie ist China mit einem Exportvolumen von 4,6 Milliarden Franken der weltweit drittwichtigste Absatzmarkt. 2021 gingen 6,8 Prozent der gesamten MEM-Ausfuhren ins Reich der Mitte. Rund die Hälfte davon entfällt auf die in der Fertigungsindustrie eingesetzten Werkzeugmaschinen. Darüber hinaus sind viele Schweizer MEM-Unternehmen mit eigenen Produktions- und Montagewerken, mit Forschung und Entwicklung sowie mit After Sales-Services vor Ort aktiv. So kann der Anteil des chinesischen Geschäfts für global tätige Schweizer Industrieunternehmen bis zu einem Drittel des weltweiten Umsatzes betragen.
Ein zentraler Innovations- und Wachstumsraum
Zurzeit zählen in China 300 Millionen Menschen zur kaufkräftigen Mittelklasse. In naher Zukunft dürften weitere 200 Millionen dazukommen. So wird China in absoluten Zahlen weltweit schon bald die grösste Mittelklasse aufweisen. Das damit verbundene Konsumwachstum wird auch die wirtschaftliche Dynamik des Landes hochhalten. Für die Schweizer MEM-Industrie ist die Teilnahme an diesem Markt aus folgenden drei Gründen unverzichtbar:
- Der chinesische Markt ist ein Innovationstreiber. Der Bedarf der chinesischen Industriekunden an neuen technologischen Lösungen ist wegen der schieren Grösse und Dynamik des Marktes enorm. Chinesische Firmen werden zunehmend innovativ, vor allem bei digitalen Geschäftsmodellen. Zuweilen liegt China sogar vor Europa. Ohne China-Geschäft wäre die Technologieführerschaft von Schweizer MEM-Firmen in ihren jeweiligen Segmenten daher erschwert.
- Schweizer Zulieferer global tätiger Industriekunden müssen weltweit das gleiche Servicelevel bieten. Zudem wird vielfach erwartet, dass die Zulieferer nahe beim Kunden produzieren. Ohne eine entsprechende Präsenz in China – mit F&E, Produktion sowie Logistik – wäre das Geschäft mit global tätigen Kunden in anderen Marktregionen in Frage gestellt.
- Der erste Investitionszyklus vieler chinesischer Firmen liegt 15 bis 20 Jahre zurück. Es steht ein Modernisierungszyklus bevor. Schweizer Firmen, die bereits damals chinesischen Kunden belieferten, können nun vom anfallenden hohen Ersatzinvestitionsbedarf profitieren.
Vielfältige Herausforderungen
Doch das China-Geschäft ist für Schweizer Firmen in den letzten Jahren auch deutlich anspruchsvoller geworden. Ein erster Grund liegt in der zunehmenden politischen und technologischen Rivalität zwischen den USA und China. Wegen extraterritorial wirkenden Gesetzgebungen in den beiden Staaten besteht ein erhebliches Risiko, dass Schweizer Firmen in den jeweiligen Märkten nicht mehr durchwegs gesetzeskonform handeln. Im Extremfall müsste sich eine Schweizer Firma für einen Markt entscheiden. Ein erzwungener Rückzug aus einem der beiden Märkte hätte allerdings auch erhebliche Redimensionierungen zur Folge. Dies würde sich auch negativ auf den Standort Schweiz auswirken. Zudem gäbe ein forcierter Rückzug aus China den dortigen Anbietern den Raum, zuerst in China und anschliessend auch in wichtigen Exportmärkten zu ernsthaften Konkurrenten zu werden.
Ein weiterer Grund ist, dass China mit dem 14. Fünfjahresplan seine Wirtschaftspolitik angepasst hat. Das Land will mehr technologische Eigenständigkeit erreichen, was in einem gewissen Ausmass eine Entkoppelung von der Weltwirtschaft zur Folge haben wird. Daneben entwickelt sich das chinesische Wirtschaftsmodell immer weniger in Richtung einer freien Marktwirtschaft. Vielmehr wird das Modell eines «hybriden» Staatskapitalismus verfolgt, in welchem der Staat die wesentliche Kontrolle behält. Die Wirtschaftsfreiheit in staatsnahen sowie staatlich zu kontrollierenden Branchen wird für ausländische Unternehmen immer mehr eingeschränkt. Das betrifft vor allem die Bereiche Sicherheitsindustrie, Luftfahrt, Telekommunikation und Energie. Dem gegenüber sind andere Bereiche wie etwa der Maschinenbau, die Autoindustrie, Konsumgüter und der Handel nach wie vor ziemlich frei.
Schliesslich hat auch die Corona-Pandemie Folgen für ausländische Unternehmen. Die rigide Covid-Politik Pekings mit ihren wiederholten Lockdowns macht es für Schweizer Firmen schwierig, ihre Tochterfirmen in China zu führen. Die äusserst restriktiven Einwanderungsmodalitäten verhindern faktisch den Personenverkehr zwischen China und Europa. Zuweilen entfalten diese Vorschriften eine protektionistische Wirkung, weil so letztlich lokale Konkurrenten gegenüber vor Ort ansässigen Schweizer Firmen bevorteilt werden.
Was tun?
In dieser Situation ist ein politisches Risikomanagement fĂĽr jede Firma zentral. Dazu muss jede Firma etwa analysieren, welche SchlĂĽsseltechnologien und Kernkomponenten nicht in China produziert werden sollten. Zudem braucht es Firewalls, um den Zugriff auf Firmengeheimnisse durch die lokale Tochtergesellschaft zu verhindern.
Hinsichtlich der steigenden Rechtsunsicherheit reagieren die Firmen in ihrem Investitionsverhalten unterschiedlich. Ein Teil der Firmen setzt weiterhin auf China, zeigt sich aber zurückhaltend mit Blick auf weitere Expansionen. Andere Firmen derweil bauen ihre Präsenz in China gar weiter aus. Diese Neuinvestitionen sind jedoch meist darauf ausgerichtet, die in China hergestellten Produkte fast ausschliesslich lokal zu verkaufen. Das reduziert folglich globale Handelsbeziehungen, kommt aber einer Form von konzern-internem Decoupling gleich. Schliesslich erhöhen jene Firmen, die an globalen Lieferketten festhalten, ihre Resilienz mit einer regional breiter abgestützten Beschaffungsstrategie. Da China unterdessen weitgehend kein Billig-Fertigungs-Standort mehr ist, hinterfragen viele Firmen derzeit auch das bisherige Konzept, das Land als «Fabrik der Welt» zu nutzen.
Sicherheits- und aussenpolitische Neutralität
Auch die Politik kann mithelfen, damit Schweizer Firmen nicht zwischen den beiden geopolitischen Blöcken wählen müssen und dabei den Verlust des einen oder anderen Marktes riskieren. Dazu ist eine Aussenpolitik erforderlich, die auf den folgenden drei Säulen basiert:
- Das Anbieten Guter Dienste und dank diplomatischer Initiativen soll die politische Schweiz als «ehrlicher Broker» für die grossen Machtblöcke vermehrt unverzichtbar werden.
- Mit der sicherheits- und aussenpolitischen Neutralität soll die Schweiz verhindern, in die Konflikte der Grossmächte hineingezogen zu werden. Als Folge soll die Schweiz einzig die Sanktionen des UNO-Sicherheitsrats übernehmen, gleichzeitig aber sicherstellen, nicht als Umgehungsstandort missbraucht zu werden.
- In Ergänzung sollten Schweizer Firmen möglichst unverzichtbare Produkte und Dienstleistungen herstellen und sich damit als Lösungserbringer für die Herausforderungen unserer Zeit positionieren (z.B. Klimaschutz, Nahrungsmittel, Wasser, Mobilität, Medtech etc.).
In den vergangenen zehn Jahren haben sich verschiedene Länder wie China oder Russland nicht in Richtung Demokratie entwickelt. Gleichzeitig ist der bei China kritisierte Einfluss des Staates auf die Wirtschaft, die damit verbundenen staatlichen Beilhilfen sowie der Protektionismus auch zunehmend in den USA und Europa spürbar. Das sind alles schlechte Entwicklungen. Sie untergraben den Multilateralismus und offene Märkte, die in den letzten 70 Jahren weltweit enormen Wohlstand geschaffen haben.
Die globalen wirtschaftlichen Verflechtungen wurden in der Corona-Pandemie und im Ukraine-Krieg breit kritisiert. Sie sind aber das beste Druckmittel des Westens gegenüber Staaten wie China. Angesichts der enormen Herausforderungen im Klimabereich, die eine internationale Zusammenarbeit unumgänglich machen, sollte sich gerade ein Land wie die Schweiz global mit aller Kraft für multilaterale Lösungen und gegen protektionistische Tendenzen einsetzen. Über kurz oder lang kann die Schweiz damit den besten Beitrag leisten, dass sich die internationale Gemeinschaft in Richtung offener Märkte und offener Gesellschaften entwickelt. So bleiben wichtige Märke wie China auch weiterhin für die Schweizer Industrie zugänglich.
Publiziert am 19.4.22 auf NZZ Global PRO